Weinlegenden-Overkill – Eine Raritätenprobe der ganz besonderen Art

Jede Leidenschaft hat ihre Ikonen. Was dem Philatelisten die Blaue Mauritius oder dem Schalke-Fan die Bundesliga-Meisterschale, das sind für den ambitionierten Weinfex die berühmten Roten aus Bordeaux, allen voran die „Premiers Grands Crus Classés“ aus dem Médoc. Einmal im Leben einen 1945er Haut Brion probieren. Oder vielleicht einen 1959er vom kaum weniger legendären Nachbarweingut La Mission Haut-Brion. Beide mit der Traumnote 100/100 des amerikanischen Weinkritikers Robert Parker ausgestattet. Aber beide so selten – und so teuer –, dass das mit dem „einmal im Leben“ bei den meisten Wein-Afficionados eher nichts wird…

Natürlich gibt es immer mal wieder sagenumwobene Verkostungen, auf denen sich die Crème de la Créme der internationalen Verkostungsszene trifft, um im bacchantischen Rausch reihenweise solche Pullen aufzureißen und dann mehr oder weniger kenntnisreich darüber zu philosophieren. Zumindest liest man immer wieder von solchen Veranstaltungen – und fragt sich, warum man selber denn nie bei so etwas dabei ist.

Die gute Nachricht: Solche Proben finden wirklich statt. Und: Es sind durchaus keine Closed Shops! Wenn man das nötige Kleingeld (okay, „Klein“-Geld trifft es jetzt nicht wirklich) zusammenbringt, dann darf man bei einem solchen Hochamt auch wirklich und tatsächlich dabei sein. Na ja, und „einmal im Leben“ wollte ich mir so etwas auch mal gönnen.

Also flugs die Angebote der einschlägigen Veranstalter geprüft (viele sind es naturgemäß nicht) und schnell entschieden: Eine vergleichende Probe mit den beiden oben genannten Châteaux sollte es werden: Château Haut-Brion, 1er Grand Cru Classé und Château La Mission Haut-Brion. Grand Cru Classé. Und das aus absoluten und teilweise legendären Spitzenjahrgängen: 1945, 1949, 1950, 1952, 1953, 1955, 1959 und 1961. Dazu dann als vergleichsweise jugendlichen Abschluss 1983 und 1989. Sieben dieser zehn Jahrgänge wurden vom Grandseigneur der englischen Weinschreiber-Zunft Michael Broadbent mit der Höchstnote von ***** ausgezeichnet. Insgesamt 20 absolute Spitzenweine, von denen jeder einzelne praktisch jede Probe, an der ich bisher teilgenommen habe, gekrönt und geadelt hätte.

Sechs mal 100 Parker-Punkte, fünf weitere Weine mit 95 – 99 Punkten. Flaschenpreise zwischen € 900 und € 4.500 – wenn man die beiden popeligen 1983er rausrechnet, die einem schon für € 200 – € 400 hinterhergeworfen werden. Gute € 40.000 müsste man auf den Tisch des Hauses legen, würde man die 20 Flaschen heute im einschlägigen Handel erwerben. Was für ein Line-Up!

Auch der Rahmen passte: Ein feines Hotel an der Ahr, zur Begrüßung rosé Champagner aus der Doppel-Magnum und gereifter Riesling. Als höchst großzügige Überraschung vorweg vier Jahrgänge des seltenen Weißweins von La Mission, Château Laville Haut-Brion. Und – selbstverständlich! – nicht irgendwelche Jahrgänge, sondern den fein gereiften Stoff: 1947, 1948, 1950 und 1952 – sämtlich als Beweis dafür, dass auch trockene weiße Bordeaux ein stattliches Alter erreichen können.

Und dann ging es los mit dem ersten „Flight“ – so nennt man das hier, wenn vier Gläser vor den genussbereiten Gaumen stehen: 1945 und 1949. Schnell formulierten die Teilnehmer ihre Vorlieben. Gut die Hälfte outete sich als „absoluter La-Mission-Anhänger“, der Rest fühlte sich eher dem „Haut-Brion-Lager“ verpflichtet. Meinen geflüsterten Hinweis, dass ich ja eher Hertha BSC-Fan sei, hat zum Glück niemand weiter beachtet.

Nein, keine Sorge, ich möchte jetzt niemanden langweilen mit „intensives Bouquet von erdigem Waldboden und Trüffel, gepaart mit überreifen Beeren“. Nur soviel: Der 1945er war schon ziemlich reif, vor allem im Vergleich zum noch erfreulich lebendigen 1949er. Beide Male hatte Haut-Brion das feine Näschen vorn. Bei 1950 und 1952 ging die Post dann schon richtig ab. Auch hier war Haut-Brion Etappensieger – vor allem mit einem sensationellen 1950er! 1953 und 1955 sehr homogen auf allerhöchstem Niveau. Und 1959 und 1961 waren die erwarteten Jahrhundert-Weine. Ich war stumm vor Glück…

An dieser Stelle lernte ich dann auch, dass „einmal im Leben einen 1959er Haut-Brion verkosten“ offenbar doch ein Wunsch ist, der nicht jeden zufriedenstellt. Die Corona – ich war übrigens der einzige Neuling, alle anderen waren bestens miteinander vertraut – war nicht sonderlich begeistert darüber, einmal einen solchen zu verkosten, sondern diskutierte eher darüber, welche der vielen 1959er Haut-Brion-Flaschen, die sie bei welcher Gelegenheit aus welcher Flaschengröße mit wem zusammen verkostet haben, denn nun die beste gewesen sei. So hat eben jeder sein Päckchen zu tragen.

Anschließend gab es noch das junge Zeug: 1983 und (Jahrhundertjahrgang!) 1989. 1983 jetzt wunderbar zu trinken, 1989 (mit zwei mal 100 Parker-Punkten am Start) bereits jetzt – nach gerade mal einem guten Viertel Jahrhundert! – ein großer Genuss.

Natürlich gab es dazu noch ein kleines, ziemlich gutes Menü. Und ein wenig Tischwein: 1990 Château Pape Clément und 1992 Château Haut-Brion, kleiner Jahrgang, dafür aus großen (Magnum-)Flaschen. Ein bisschen reifen Riesling hinterher (2002 Rauenthaler Nonnenberg von Georg Breuer) – und zack! – fertig ist der Raritätenabend.

Alles war perfekt! Die Weine durch die Bank herausragend. Sie wurden perfekt temperiert serviert. Auch auf die so wichtigen Kleinigkeiten – wie zum Beispiel die richtige Raumtemperatur – wurde geachtet. Man spürte sehr deutlich, dass hier von vorne bis hinten Profis am Werk waren. Chapeau!

Trotzdem hinterließ der Abend irgendwie einen schalen Beigeschmack. Mein Freund Bernhard Moser hatte vorher schon bemerkt: „Diese Flights… ich weiß nicht… hab mich emotional davon verabschiedet.“ Und irgendwie wusste ich hinterher, was er damit meinte. Die Frage, die ich mir bei all diesen geballten Weinlegenden immer wieder gestellt habe, war: Werden wir jetzt eigentlich den Weinen gerecht? Wenn ich nur mal an den vierten Flight denke: 1959 und 1961. Vier Flaschen im Wert von über € 12.000. Vier Flaschen, von denen jede einzelne der Inbegriff des Kultweines ist. Vier Flaschen, von denen auch ambitionierte Weinfreaks wahrscheinlich ihr Leben lang träumen werden. Vier Flaschen, von denen man sich am liebsten mit jeder einzelnen einen ganzen Abend lang beschäftigen möchte. Beobachten möchte, wie er sich im Glas verändert. Herausschmecken möchte, was die Natur, der Winzer und die Zeit hier für ein Kunstwerk geschaffen haben.

Einen ganzen Abend lang. Und eben nicht nur die 20 bis 25 Minuten, die man in einem solchen Flight hat. Für alle vier Weine…

Nein, ich bereue es nicht, bei diesem Abend dabei gewesen zu sein. Er hat mein Weinwissen in der Kategorie „voll ausgereifte Spitzengewächse“ massiv nach oben katapultiert, ich habe große Weine verkosten dürfen und sehr spannende Menschen kennengelernt.

Aber wenn ich das nächste Mal € 1.500 auf den Tisch des Hauses lege, dann suche ich mir lieber drei Gleichgesinnte (beziehungsweise gleich Verrückte), gehe in ein beliebiges Zwei- oder Drei-Sterne-Restaurant in der Republik und rosinenpicke mich einmal durch die Weinkarte. Bei einem Budget von € 5.000 für die Weine werden wir sicher fünf, sechs außergewöhnliche Bouteillen öffnen können. Und dann nehmen wir uns richtig Zeit!

Ich könnte mir vorstellen, dass dieser Genuss sogar noch größer sein könnte.

Gleichgesinnte können sich gern ab sofort bei mir melden ;-)